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A life can be an artwork

 

Novalis

Das Individuum wird das vollkommenste, das rein systematische sein, das nur durch einen einzigen absoluten Zufall individualisiert ist – z.B. durch seine Geburt. In diesem Zufall müssen alle seine übrige Zufâlle, die unendliche Reihe seiner Zustände, eingeschachtelt liegen, oder noch besser, als seine Zufälle, seine Zustände determiniert sein. Ableitung eines individuellen Lebens aus einem einzigen Zufalle – einem einzigen Akt der Willkür.
Zerlegung Eines Zufalls – Eines großen Akts der Willkür in mehrere – in unendliche – dutch allmähliche Aufnahme – langsame, sukzessive Eindringung – Geschehung.

Novalis: Fragmente und Studien 1797-1798. [In: Gerhard Schulz (ed.): Novalis Werke. München: C.H. Beck, 2001. (# 58, p. 395)]

F. Schlegel

Mancher der vortrefflichsten Romane ist ein Compendium, eine Encyclopädie des ganzen geistigen Lebens eines genialischen Individuums; Werke die das sind, selbst in ganz andrer Form, wie Nathan, bekommen dadurch einen Anstrich vom Roman. Auch enthält jeder Mensch, der gebildet ist, und sich bildet, in seinem Innern einen Roman. Daß er ihn aber äußre und schreibe, ist nicht nöthig.

Friedrich Schlegel: Kritische Fragmente # 78. In: Lyceum der schönen Künste.
Ersten Bandes zweyter Theil (1797), pp. 133-169 [p. 153]

Jeder progressive Mensch trägt einen  nothwendigen Roman  a priori in seinem Innern, welcher nichts [ist] als der  vollständigste Ausdruck  seines ganzen Wesens. Also eine nothwendige Organisazion, nicht eine zufällige Crystallisazion.

Friedrich Schlegel: Fragmente zur Poesie und Literatur I (1797-1801), nr. 576.
[Hans Eichner (ed.): Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe, Band XVI. Paderborn: Schöningh, 1981.]

Wackenroder

Lasset uns darum unser Leben in ein Kunstwerk verwandeln, und wir dürfen kühnlich behaupten, daß wir dann schon irdisch unsterblich sind.

Wilhelm Heinrich Wackenroder & Ludwig Tieck: Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst. Hamburg: Friedrich Perthes, 1799.

Goethe

"Ob wir eine einzelne Thätigkeit, die sich mit der Welt mißt, unter der Form eines Ulysses, eines Robinson Crusoe auffassen, oder etwas Aehnliches an unsern Zeitgenossen im Laufe sittlicher, bürgerlicher, ästhetischer, literarischer Ereignisse wahrnehmen, ist ganz gleich. Alles was geschieht ist Symbol, und indem es vollkommen sich selbst darstellt, deutet es auf das Uebrige. In dieser Betrachtung scheint mir die höchste Anmaßung und die höchste Bescheidenheit zu liegen."

Johann Wolfgang von Goethe: Letter to Karl Ernst Schubarth, April 1818.

Muehl's Cézanne

hätte paul cezanne sein leben mit der gleichen intensität wie seine bildfläche gestalten können, wäre nicht nur die bildfläche sondern auch sein leben ein meisterwerk geworden.

Otto Muehl: Postscript. In: Sortir du Bourbier. Dijon: Les Presses du Réel, 2001.
[German text from: http://www.archivesmuehl.org/artl1.html]

 

 

The role of death in the Gestalt of life

 

Novalis

Das Leben eines wahrhaft kanonischen Menschen muss durchgehends symbolisch sein. Wäre unter diese Voraussetzung nicht jeder Tod ein Versöhnungstod? – mehr oder weniger, versteht sich – und ließen sich nicht mehrere höchst merkwürdige Folgerungen daraus ziehen?

Novalis: Fragmente vermischten Inhalts. (Ca. 1797.) In: Schriften, Vol. II. [Eds.: Ludwig Tieck & Friedrich Schlegel] Fifth Edition. Berlin: G. Reimer, 1837, pp. 237/238.

Wagner

Zur künstlerischen Darstellung geeignet kann nur eine solche Handlung sein, die im Leben bereits zum Abschlusse gekommen ist, über die als reine Thatsache kein Zweifel mehr vorhanden ist, von der willkürliche Annahmen über ihren nur möglichen Abschluß nicht mehr sich bilden können. Erst an dem im Leben Vollendeten vermögen wir die Nothwendigkeit seiner Erscheinung zu fassen, den Zusammenhang seiner einzelnen Momente zu begreifen: eine Handlung ist aber erst vollendet, wenn der Mensch, von dem diese Handlung vollbracht wurde, [...] willkürliche Annahmen über sein mögliches Thun ebenfalls nicht mehr unterworfen ist; diesen unterworfen aber ist ein Mensch, so lange er lebt, erst mit seinem Tode ist er von dieser Unterworfenheit befreit, denn wir wissen nun Alles was er thät und was er war. [...] Nur die Handlung ist eine vollkommen wahrhafte und ihre Nothwendigkeit uns klarthuende, an deren Vollbringung ein Mensch die ganze Kraft seines Wesens setzte, die ihm so nothwendig und unerläßlich war, daß er mit der ganzen Kraft seines Wesens in ihr aufgehen mußte. Davon überzeugt er uns auf das Unwiderleglichste aber nur dadurch, daß er in der Geltendmachung der Kraft seines Wesens wirklich persönlich unterging, sein persönliches Dasein um der entäußerten Nothwendigkeit seines Wesens willen wirklich aufhob, –– daß er die Wahrheit seines Wesens nicht nur in seinem Handeln allein –– waß uns, so lange er handelt, noch willkürlich erscheinen darf –– sondern mit dem vollbrachten Opfer seiner persönlichkeit zu Gunsten dieses nothwendigen Handelns, uns bezeugt. Die letzte, vollständigste Entäußerung seines persönlichen Egoismus, die Darlegung seines vollkommenen Aufgehens in die Allgemeinheit, gibt uns der Mensch nur mit seinem Tode kund, und zwar nicht mit seinem zufälligen, sondern seinem nothwendigen, dem durch sein Handeln und der Fülle seines Wesens bedingten Tode.

Die Feier eines solchen Todes, ist die würdigste, die von Menschen begangen werden kann. Sie erschließt uns nach dem, durch jenen Tod erkannten, Wesen dieses einen Menschen die Fülle des Inhaltes des menschlichen Wesens überhaupt. Am vollkommensten versichern wir uns des Erkannten aber in der bewußtvollen Darstellung jenes Todes selbst, und, um ihn uns zu erklären, durch die Darstellung derjenigen Handlung, deren nothwendiger Abschluß jener Tod war.

Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig: Otto Wigand, 1850; pp. 208-210.

Heidegger

Das Dasein existiert je schon immer gerade so, daß zu ihm sein Noch-nicht gehört. [...] Der Tod als Ende des Daseins ist die eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins. Der Tod ist als Ende des Daseins im Sein dieses Seienden zu seinem Ende.

Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer, 1927, pp. 243/258/259.

Das zentrale Kapitel von Sein und Zeit behandelt "Das mögliche Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode." Es wird, wie sich dann weist bloß rhetorisch, gefragt, "ob dieses Seiende als Existierendes überhaupt in seinem Ganzsein zugänglich werden kann." [...] Heidegger-immanent ist abzusehen, was er später mit soviel Aplomb vorträgt: daß das Leben eines Menschen zum Ganzen sich runde wie nach biblischer und epischer Vorstellung, sei nicht darum a priori ausgeschlossen, weil alle sterben müssen. [...]

Weil dem Ontologen Ganzsein nicht die Einheit des ganzen Inhalts von realem Leben sein darf, sondern qualitativ ein Drittes sein muß, wird Einheit nicht im Leben als einem in sich einstimmigen, artikulierten und kontinuierlichen aufgesucht, sondern an dem Punkt, der Leben begrenzt und es samt seiner Ganzheit vernichtet. Als nicht Seiendes, oder wenigstens als Seiendes sui generis außerhalb des Lebens, sei dieser Punkt, wiederum, ontologisch. [...] Der Tod wird, der Faktizität entrückt, zum ontologischen Stifter der Ganzheit. [...] Dem Tod, der Negation des Daseins, wird danach Sein mit nachdruck bescheinigt. Ontologisches Konstituens des Daseins, stattet der Tod allein es mit der Würde von Ganzheit aus. [...] Zum Ganzen werde Dasein ontologisch kraft des Todes, der ontisch es zerreißt.   

Heidegger's "Sein zum Tode" as summarized by Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1964.  [In: Negative Dialektik / Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, pp. 509-511.]

Übrigens bewegen derlei von Heidegger veranlaßte Argumentationen zwangsläufig sich in einer Sphäre des Blödsinnigen [...].Das von Heidegger gering geschätzte "Vorkommnis" [des Todes], das "niemandem eigens zugehört", gehört, nach dem Sprachgebrauch, durchaus jemandem zu, nämlich dem, der stirbt; einzig solipsistische Philosophie dürfte dem Tod von "mir" gegenüber dem eines jeden anderen ein ontologisches Prius zuerkennen.

Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1964.  [In: Negative Dialektik / Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, pp. 513. The quotes are from Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer, 1927, p. 253.]

Beuys

Aber erst die Begegnung mit dem Tod, der Vorblick auf das sichere eigene Lebensende mit seinen Verlusten und seiner Einsamkeit können aus freien Stücken den Wunsch entstehen lassen, auf das gelebte Leben als auf eine vollendete Gestalt zurückblicken zu wollen wie auf die Skulptur eines Künstlers.

Advertisement for: Johannes Stüttgen: Zeitstau Im Kraftfeld des Erweiterten Kunstbegriffs von Joseph Beuys. Verlag Urachhaus. [In: Joseph Beuys: Aktive Neutralität. Die Überwindung von Kapitalismus und Kommunismus. Ein Vortrag mit Diskussion am 20. Januar 1985. Wangen: Freie Volkshochschule Argentai, 1985.]

 


A life cannot be an artwork (A life has no Gestalt)



Arthur Schopenhauer

The life of every individual, viewed as a whole and in general, and when only its most significant features are emphasized, is really a tragedy; but gone through in detail it has the character of a comedy. For the doings and worries of the day, the restless mockeries of the moment, the desires and fears of the week, the mishaps of every hour, are all brought about by chance that is always bent on some mischievous trick; they are nothing but scenes from a comedy [...]. Thus, as if fate wished to add mockery to the misery of our existence, our life must contain all the woes of tragedy, and yet we cannot even assert the dignity of tragic characters, but, in the broad detail of life, are inevitably the foolish characters of a comedy.

Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Leipzig: Brockhaus, 1819. [English translation by E.F.J. Payne: The World as Will and Representation (New York, 1969), Vol. 1, p. 322.]

Nikolaj Berdjaev

"Unser Leben ist nich plastisch, es ist gestaltlos."

Nikolaj Berdjaev: Smysl tvorĨesta. (Der Sinn des Schaffens.) Moscow, 1916, p. 265. [Quoted by Verena Krieger: Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen Moderne. Köln: Böhlau, 2006, p. 140.]

Marguerite Duras

L’histoire de ma vie n’existe pas. Ça n’existe pas. Il n’y a jamais de centre. Pas de chemin, pas de ligne. Il y a de vastes endroits où l’on fait croire qu’il y avait quelqu’un, ce n’est pas vrai il n’y avait personne.

Marguerite Duras: L'Amant. Paris: Minuit, 1984, p. 14.

Iris Murdoch

The selfish and fantastical ego is unreal, the true religious life has no stories. It is above mythology. In the end we give up everything, including God, as we are told by Christian mystics such as Eckhart and St John of the Cross. Of course for the unenlightened this paradox too is a kind of art, a shadow cast by a higher truth. It certainly has a thrilling aesthetic charm.

Iris Murdoch: Metaphysics as a Guide to Morals. New York: Viking Penguin, 1993, p.91.



Further literature on "life as narrative"
 

 

Giorgio Vasari: Le Vite de' Più Eccellenti Pittori, Scultori, ed Architettori. Firenze: Lorenzo Torrentino, 1550.

Ernst Kris & Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein historischer Versuch. Wien: Krystall Verlag, 1934.

Charlotte Linde: Life stories. The Creation of Coherence. New York: Oxford University Press, 1993.